
Noch ist die Gebäudebegrünung ein Nischenthema in der Immobilienwirtschaft. Doch das ändert sich gerade. Denn begrünte Dächer und Fassaden sind zunehmend akzeptierte Strategien zur Anpassung an den Klimawandel. Innovative Immobilienprojekte zeigen das Potenzial. Von Dagmar Hotze
Bei Gebäudebegrünung denken viele Menschen an den mit Efeu bewachsenen Altbau oder an die Brandmauer eines Hinterhofgebäudes, an der das Grün emporsprießt. In den 1980er-Jahren gab es in Deutschland zahlreiche Ideen, „Betonwüsten“ in Städten durch möglichst viel „Biomasse“ optisch aufzuhübschen.
Mittlerweile dienen begrünte Dächer und Fassaden zu weit mehr: Sie sind Bestandteil der Klimaanpassungsstrategie vieler Städte, um Versiegelungen zu vermeiden und das Mikroklima zu verbessern. Zugleich sollen sie als Wasserspeicher fungieren, der einen geregelten Regenrückhalt mit verzögertem Abfluss ermöglicht, und Ersatzlebensräume für Flora und Fauna bieten.
Projektentwickler und Investoren entdecken die Kraft der Natur
Ihre positive Umweltwirkung ist beachtlich: Laut Bundesverband Gebäudegrün (BuGG) ist ein Quadratmeter pflegeleicht begrünte Dachfläche in der Lage, 30 Liter Wasser zu speichern, die Lufttemperatur um 1,5 Grad Celsius zu senken, 800 Gramm CO2 aufzunehmen und Lärm um 20 Dezibel zu mindern. Die Werte einer begrünten Fassade sind ähnlich gut. Diese Kraft der Natur nutzen Projektentwickler und Investoren immer öfter zur Realisierung nachhaltiger Immobilien.
Beispielgebend dafür ist die teils neu gebaute, teils denkmalgeschützte Calwer Passage in prominenter Lage in Stuttgart, entworfen von Ingenhoven Associates. Der 27 Meter hohe und 133 Meter lange Siebengeschosser beherbergt auf dem Dach einen Mini-Mischwald aus 40 Bäumen und an den straßenzugewandten Fassadenseiten 11.000 Pflanzen in 2.000 Trögen, die als Bänder entlang der Obergeschosse verlaufen. Die Wasser- und Nährstoffzufuhr für die Grünfassade erfolgt über ein digitales Versorgungssystem. Abhängig von der Jahreszeit grünt, blüht, summt und zwitschert es am und auf dem Gebäude unterschiedlich, zur Freude des Mieters, der Wirtschaftskanzlei CMS.
Innerstädtische Begrünung wirkt gerade in klimatisch herausfordernden Verhältnissen wie der Stuttgarter Kessellage besonders positiv.
„Innerstädtische Begrünung wirkt gerade in klimatisch herausfordernden Verhältnissen wie der Stuttgarter Kessellage besonders positiv“, sagt Florian Starz, Ingenieur beim Unternehmen Werner Sobek, der an der Fassadenkonstruktion mitplante. Die Laubschicht vor der Fassade sorge durch Verschattung und Verdunstungskühle für eine deutlich geringere Oberflächentemperatur und minimiere so den Hitze-Insel-Effekt, da sie bis zu 50 Prozent der auftretenden Sonnenenergie für die Wasserverdunstung aufwende.
Mit dem Hochhaus Eden am Eingang zum Frankfurter Europaviertel entsteht ein weiterer begrünter Hingucker, finanziert vom belgischen Investor Immobel. Das vertikale Ökosystem des 98 Meter hohen Wohnturms, den Helmut Jahn entwarf und der 2022 den Fiabci Prix d’Excellence Award in Bronze gewann, setzt sich aus 200.000 robusten Pflanzen zusammen, die an 28 Etagen entlangranken und 263 Wohnungen begrünen.
Pioniercharakter hat auch das von CV Real Estate nach Plänen von KSP Engel Architekten im Bankenviertel der Mainmetropole realisierte 14-geschossige Hochhaus Canyon, das auf rund 38.000 Quadratmetern flexible Büroflächen, Künstlerateliers sowie Gastronomieangebote und Einkaufsmöglichkeiten bietet. Zu den Highlights des Gebäudes, für das ein LEED-Platin-Zertifikat angestrebt wird, gehören die auffallende Fassadenbegrünung mit Farnen, Gräsern, Stauden und Gerüstkletterpflanzen, die über zwei, an manchen Stellen über drei Geschosse an Kletterhilfen hochwachsen, sowie die vielen nutzbaren Gründachflächen. Über sie werden jährlich bis zu 2.000 Kilogramm CO2 aufgenommen und Stickstoffe um bis zu 40 Prozent reduziert.
Zudem trägt die naturnahe Gebäudegestaltung zur Energieeinsparung von etwa 10 Prozent bei und minimiert den Feinstaubanteil um bis zu 30 Prozent. „Wesentlich für eine dauerhafte, nachhaltige Begrünung sind hier die recht großen Substratmengen und die Dämmung der Tröge, die ein Absterben der Pflanzen aufgrund von Frostschäden deutlich dezimieren“, erklärt Horst Robert Schinschke, stellvertretender Direktor des Architekturbüros. „Ebenso ratsam ist es, Monokulturen zu vermeiden, um bei einem möglichen Schädlingsbefall nicht das Risiko eines Totalausfalls aller Pflanzen zu haben“, ergänzt Caspar Schmitz-Morkramer, Geschäftsführer des Architekturbüros Caspar, der für Fay Projects im Stuttgarter Neckarpark den fassadenbegrünten Neubau Cannion entwarf, einen 27.000 Quadratmeter großen Komplex aus Büro, Hotel und weiteren Angeboten, vorgesehen für ein goldenes DGNB-Zertifikat und ein ebensolches Wiredscore-Label. Taxonomiekonforme Neubauten zu begrünen kann aber nur ein Anfang sein.
Gebäudebegrünung bei Neubauten und Transformationsimmobilien
Zur nachträglichen Fassadenbegrünung von Transformationsimmobilien setzt Drees & Sommer auf eine Vlies-Lösung des Unternehmens Vertiko, die an der Unternehmenszentrale OWP12 zu sehen ist. Die Grünfassade erstreckt sich auf einer 100-Quadratmeter-Fläche über drei Geschosse mit einer Höhe von zwölf Metern. Dafür zum Einsatz kommt ein wandgebundenes Vlies-Substrat-System, das zu mehr als 95 Prozent aus einem Basalt-Glas-Gemisch besteht. „Vlies als Material ist wichtig, um den im Hochbau strengen Brandschutzanforderungen zu genügen“, sagt Daniel Hof, Experte für Grünfassaden bei Drees & Sommer. Zudem ließen sich die vergleichsweise leichten Paneele gut vor fertige Fassaden setzen.
Global betrachtet liegt Deutschland nach Einschätzung des BuGG an der Spitze, was begrünte Dachflächen angeht. Dennoch ist viel Luft nach oben. Die Novelle der EU-Gebäuderichtlinie, die die Schaffung grüner Infrastrukturen im Kontext von Neubauten und größeren Umbauten verpflichtend vorsieht, könnte Gebäudebegrünung forcieren. Ende 2023 soll sie im EU-Parlament beschlossen werden. Höchste Zeit für Projektentwickler, Immobilieninvestoren und Gebäudeeigentümer, sich eingehend mit der Thematik zu befassen.
Die Begrünung des Canyon soll das Gebäude selbst wie einen Canyon erscheinen lassen. Der Entwurf von KSP Engel Architekten sieht auf unterschiedlichen Ebenen horizontale und vertikale Bepflanzungen vor. Die Projektentwicklung wird von CV Real Estate bis Ende 2026 in Frankfurt am Main in der Mainzer Landstraße 23 errichtet.
Einige Kommunen und manche Bundesländer bieten eine direkte Förderung von Gebäudebegrünung an. Außerdem bestehen überregionale Förderprogramme wie die Bundesförderung für effiziente Gebäude und für serielle Sanierung, bei denen Gebäudegrün als förderfähige Maßnahme integriert ist. Programme der Städtebauförderung bezuschussen ebenfalls Dach- und Fassadenbegrünung als Teil der grünen Infrastruktur.
Von Dagmar Hotze